Mann im Nebel während Dissoziation

Borderline und Dissoziationen – Wenn das Jetzt plötzlich verschwindet

Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) kennen es oft nur zu gut: Plötzlich wirkt alles fremd, die Umgebung verschwimmt, Geräusche klingen gedämpft, der Körper fühlt sich weit weg an – als wäre man in einem Traum gefangen. Diese Erfahrung nennt man Dissoziation, und sie ist eines der häufigsten, aber auch am schwersten zu verstehenden Symptome bei Borderline.

In diesem Artikel erfährst du, warum Dissoziationen entstehen, wie sie sich äußern, welche Rolle sie im Borderline-Erleben spielen – und vor allem, was du tun kannst, um dich wieder zu spüren, wenn die Realität zu entgleiten scheint.


Was ist eine Dissoziation überhaupt?

Das Wort „Dissoziation“ bedeutet wörtlich „Trennung“ oder „Abspaltung“. Psychologisch beschreibt es einen Zustand, in dem Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen oder Erinnerungen voneinander getrennt sind.
Das kann sich sehr unterschiedlich zeigen – von einem kurzen Moment der Benommenheit bis hin zu tiefgreifenden Zuständen, in denen man sich selbst oder die Umgebung nicht mehr richtig wahrnimmt.

Dissoziationen sind keine bewusste Entscheidung, sondern ein automatischer Schutzmechanismus des Gehirns. Sie treten oft dann auf, wenn ein Mensch emotional überfordert ist oder innere Spannung unerträglich wird. Das Gehirn „schaltet ab“, um das Erlebte erträglicher zu machen – ähnlich wie ein Notaus-Schalter.


Warum treten Dissoziationen bei Borderline so häufig auf?

Bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung sind Emotionen extrem intensiv und oft schwer zu regulieren. Viele Betroffene haben zudem traumatische Erfahrungen in der Kindheit gemacht, etwa Missbrauch, Vernachlässigung oder emotionale Zurückweisung.

Das Nervensystem lernt dadurch früh: „Wenn es zu viel wird, schalte ab.“
Dieser Mechanismus kann später in ganz unterschiedlichen Situationen aktiviert werden – etwa bei Streit, Ablehnung, Überforderung oder auch scheinbar „harmlosen“ Alltagsstressoren.

Man könnte sagen:
👉 Dissoziation ist der Versuch des Gehirns, dich zu schützen – auch wenn es sich paradox anfühlt.


Formen der Dissoziation

Nicht jede Dissoziation sieht gleich aus. Viele Menschen wissen gar nicht, dass das, was sie erleben, überhaupt eine Dissoziation ist. Hier sind die häufigsten Formen:

1. Depersonalisation – das Ich löst sich auf

Man hat das Gefühl, nicht mehr im eigenen Körper zu sein oder sich von außen zu beobachten. Bewegungen wirken fremd, die eigene Stimme klingt anders, Gefühle sind wie betäubt.

Beispiel: „Ich sehe mich selbst reden, aber es fühlt sich nicht an, als wäre ich das wirklich.“

2. Derealisation – die Welt verliert ihre Echtheit

Alles um einen herum wirkt fremd, unwirklich oder wie im Traum. Farben scheinen verändert, Geräusche dumpf, Menschen wie Figuren in einem Film.

Beispiel: „Ich weiß, dass ich hier bin, aber es fühlt sich nicht echt an – als würde ich durch eine Glasscheibe schauen.“

3. Amnesie oder Erinnerungsverlust

In stressigen Momenten kann es vorkommen, dass Erinnerungen an bestimmte Situationen fehlen oder man „Blackouts“ hat. Das ist meist kurzfristig, kann aber sehr verunsichernd sein.

4. Identitätsveränderung

Manche Betroffene erleben, dass sich ihr Denken, Verhalten oder sogar die Stimme plötzlich verändert – als würde eine andere Seite in ihnen übernehmen. Das kommt seltener vor, kann aber Teil einer komplexeren Dissoziation sein.


Wie fühlen sich Dissoziationen im Alltag an?

Dissoziationen können im Alltag jederzeit auftreten – oft plötzlich und ohne erkennbaren Grund.
Viele Betroffene beschreiben:

  • „Ich funktioniere einfach, aber fühle nichts.“
  • „Ich höre, was jemand sagt, aber die Worte erreichen mich nicht.“
  • „Ich habe das Gefühl, die Zeit steht still oder vergeht zu schnell.“
  • „Ich erkenne mich im Spiegel nicht richtig wieder.“

Das Problem ist: Außenstehende bemerken diese Zustände oft nicht. Nach außen wirkt man ruhig, vielleicht etwas abwesend – doch innerlich herrscht Leere oder Orientierungslosigkeit. Das führt leider oft zu Missverständnissen, auch in Therapie oder Partnerschaft.


Warum Dissoziation so beängstigend sein kann

Dissoziation ist eigentlich ein Schutz, fühlt sich aber nicht sicher an. Viele Betroffene haben Angst, „verrückt zu werden“ oder die Kontrolle zu verlieren.

Diese Angst kann die Dissoziation sogar verstärken – ein Teufelskreis entsteht:
Stress → Dissoziation → Angst → noch mehr Stress → noch stärkere Dissoziation.

Der erste Schritt, um aus diesem Kreislauf auszubrechen, ist Verstehen:
Was gerade passiert, ist keine „Schwäche“ oder „Spinnerei“, sondern eine biologische Stressreaktion deines Nervensystems.


Wege zurück ins Hier und Jetzt – Umgang mit Dissoziation

Die gute Nachricht: Du kannst lernen, mit Dissoziationen umzugehen und sie schneller zu erkennen. Es geht nicht darum, sie völlig zu verhindern – sondern darum, dich selbst zu stabilisieren, wenn sie auftreten.

Hier einige bewährte Strategien:

1. Bodyscan und Körperwahrnehmung

Versuche, deinen Körper wieder bewusst zu spüren:

  • Drücke deine Füße fest auf den Boden.
  • Spanne einzelne Muskelgruppen an und wieder locker lassen.
  • Lege eine Hand auf deine Brust oder deinen Bauch und atme bewusst tief ein und aus.

Das hilft, das Gehirn daran zu erinnern: „Ich bin hier, in meinem Körper, in diesem Moment.“

2. Sensorische Reize einsetzen

Starke Reize können dich zurückholen – aber bitte achtsam:

  • Kaltes Wasser über die Hände laufen lassen.
  • Ein Duftöl riechen.
  • Ein Stück Eis anfassen oder etwas mit kräftigem Geschmack lutschen.

Diese Reize aktivieren das Nervensystem und verankern dich wieder im Jetzt.

3. 5-4-3-2-1-Technik

Diese Übung hilft, sich zu orientieren:

  • 5 Dinge, die du siehst
  • 4 Dinge, die du fühlst
  • 3 Dinge, die du hörst
  • 2 Dinge, die du riechst
  • 1 Ding, das du schmeckst

Diese Technik verbindet dich wieder mit deiner Umgebung – ein klassischer Skill aus der DBT (Dialektisch-Behavioralen Therapie).

4. Sich selbst ansprechen

Sag dir innerlich oder laut:
„Ich bin [Name]. Ich bin jetzt hier. Es ist [Tag, Uhrzeit]. Ich bin sicher.“
Das klingt simpel, wirkt aber stark, weil es Orientierung gibt.

5. Nach der Dissoziation: Sanft weitermachen

Wenn du wieder klarer bist, sei freundlich zu dir selbst. Viele fühlen sich nach einer Dissoziation erschöpft, verwirrt oder schuldig.
Erlaube dir, dich auszuruhen, etwas Warmes zu trinken, Musik zu hören oder mit jemandem zu reden, dem du vertraust.


Dissoziation und Therapie – was hilft langfristig?

Therapeutisch gesehen ist der Schlüssel, die Ursachen der Dissoziation zu verstehen und besser mit innerem Stress umzugehen.
In der DBT, Schema-Therapie oder Traumatherapie lernst du, Spannungen früh zu erkennen und zu regulieren, bevor das Gehirn „abschaltet“.

Ziele der Therapie sind:

  • Trigger frühzeitig wahrnehmen
  • Emotionen regulieren, statt zu dissoziieren
  • Sicherheit im eigenen Körper aufbauen
  • Alte Traumamuster langsam verarbeiten

Therapie ist ein Prozess – aber jeder Schritt, der dich bewusster mit dir selbst verbindet, ist ein Fortschritt.


Dissoziation ist kein Versagen – sie ist ein Überlebensmechanismus

Wenn du dissoziierst, bedeutet das nicht, dass du schwach bist. Im Gegenteil: Es zeigt, dass dein System früher gelernt hat zu überleben, egal wie schlimm es war.
Heute darfst du neue Wege lernen – Wege, die dich nicht abschalten, sondern stärken.

Du bist nicht „weg“ – du bist nur gerade auf der Suche nach Sicherheit.
Und du kannst lernen, sie in dir selbst zu finden.


Fazit: Wieder ankommen im eigenen Leben

Dissoziationen sind ein komplexes, aber verständliches Phänomen im Zusammenhang mit Borderline. Sie zeigen, wie sensibel und gleichzeitig stark das menschliche Nervensystem ist.
Wenn du beginnst, sie nicht mehr zu bekämpfen, sondern zu verstehen, verlierst du die Angst vor ihnen – und gewinnst Schritt für Schritt die Kontrolle über dein Erleben zurück.

Denn das Ziel ist nicht, nie wieder zu dissoziieren.
Das Ziel ist, dich selbst wiederzufinden, wenn du dich verlierst.

Schreibe einen Kommentar

Leben mit Borderline

Kontakt

E-Mail: kontakt@borderline-blog.eu

Tel: 0176-31365585

Sitemap

Schreib mir gern

zum Formular